(Text von Beate Wagner, der zeigt, dass die Rezepte des Lebens sich in einer Sammlung von schlichten Kochrezepten einbetten und wieder erfahrbar machen lassen.)
Meine Omma hatte eine. Meine Mutter hat eine. Und ich habe auch eine. Im Küchenschrank stehen: Eine zerfledderte und speckige Kladde. Meine ist spinatgrün. „Rezepte“ steht in kleinen goldfarbenen Buchstaben auf dem Deckel.
Kochrezepte sollen darin aufgeschrieben werden und es sind auch ein paar drin. Zum Beispiel aus der ersten Zeit meiner Ehe. Eingetragen meist, nachdem ich meine Mutter angerufen hatte:
- „Mama, wie kocht man eigentlich Linsensuppe?“ oder
- „Mama, wie geht der Auflauf aus Brötchen und Äpfeln, so wie Omma den immer gemacht hat?“
Im letzteren Fall holte meine Mutter dann ihre Kladde raus, um mir Ommas kompliziertes Rezept zu erklären. Kompliziert deshalb, weil Omma nur 2 Maßangaben kannte, nämlich:
- "ein bissken" oder
- "reichlich".
Omma hatte dieses 'Bissken' in den Fingern und das 'Reichlich' natürlich im Gefühl. Unsereins musste das ganze erst 50 mal zubereiten um herauszufinden wie viel Gramm denn so ein „Bissken“ übberhaup' ist.
In der grünen Kladde stehen auch Rezepte, die ich aus Zeitschriften ausgeschnitten und dann eingeklebt, aber niemals ausprobiert habe. Doch immer, wenn ich solche Rezepte wieder lese, rufe ich meine Freundin, die ich schon lange nicht mehr gesprochen habe, an. Beim Durchblättern der Rezepte erinnere ich mich gerade jetzt lebhaft an sie, weil mir sofort einfällt, dass wir beide gemeinsam in der Zeitschrift geblättert hatten, aus der ich genau dieses Rezept hier eingeklebt habe. Und somit wird die Anleitung für die Zubereitung der „kreolischen Reispfanne“ eigentlich zu einem Rezept für Freundschaft und zu der Aufforderung diese Freundschaft lebendig zu halten.
Es stehen auch „Rezepte“ drin, die überhaupt gar nichts mit Lebensmitteln zu tun haben.
Rezepte für Freude! Zum Beispiel eine Kinderzeichnung meines Sohnes. Sein erster Löwe, den er gemalt hatte … und ich kann auch noch erkennen, dass es ein Löwe sein sollte.
Oder Hochzeitsfotos und Geburtsanzeigen als Rezepte für Glück. Beim weiteren Blättern finden sich auch alte Eintrittskarten vom Theater. Sind ja irgendwie auch Rezepte. Und zwar Rezepte für die Erinnerung an wunderschöne Abende. Direkt dahinter noch mal ein echtes Backrezept. Ich backe diesen Kuchen nicht mehr. Aber ein Kindergeburtstag wäre früher nie ein Kindergeburtstag gewesen, wenn es nicht genau diesen Kuchen gegeben hätte. Die Seite ist voller Flecke und Fingerabdrücke, denn meine Kinder haben immer geholfen beim Backen.
Da meine Rezeptkladde eine gute Mischung aus allem beinhaltet, liegen darin auch Rezepte für Trauer in Form von ein paar Totenbriefen.
Kürzlich haben meine Töchter mir ein neues Rezept-Buch geschenkt, weil meine grüne Kladde schon so zerfleddert ist. In diese neue Kladde habe schon zwei Rezepte reingeschrieben. Sie stammen von einem Fernsehkoch. Die Kladde ist wirklich luxuriös und vielleicht sogar ungeheuer praktisch, weil man da sogar die Nährwertangaben des Essens mit eintragen kann. Aber was da leider irgendwie so gar nicht reinpasst, sind meine ganz persönlichen Erinnerungen. Denn es lässt sich nun einfach nicht berechnen, wie viel Kohlehydrate die Zeichnung eines 4jährigen hat oder wie viel Kalorien die Gespräche mit meiner Freundin. Außerdem sind in dem neuen Buch keine Eselsohren, also finde ich die richtigen Seiten gar nicht auf den ersten Blick.
Dieses alte spinatgrüne Ding war mal ein Geschenk von meiner Tante. Ich sehe es als „Gesamtkunstwerk“ an:
Und es ist aus meinem Leben, das ja ebenfalls so etwas wie ein Gesamtkunstwerk ist, irgendwie nicht wegzudenken.
Hier ist die Geschichte jedoch noch nicht ganz zu Ende .... Morgen erfahren wir, was Anna mit den Rezepten zu tun hat.