Das Jüngste Gericht in Oberhausen |
… alles und alle verharrten.
Wie in einem Standbild, nachdem man die Pausentaste gedrückt hatte. Sühlings Hand schwebte in der Luft. Akkis Gesicht war in Erwartung der Ohrfeige leicht verzerrt. Seine Rechte hielt die Brille weit von sich. Wir starrten auf die beiden und uns stockte der Atem. Die Atmosphäre im Klassenzimmer schien aufgeladen wie vor einem heftigen Gewitter. Absolute Ruhe herrschte. Sommerschwüle. Nichts … gar nichts … bis die Hand von Sühling unvermittelt niedersauste …. auf's Pult … und zugleich die Pausenglocke zur großen Pause schrillte.
Sühling gab uns ein Zeichen und wir wussten, dass wir das Klassenzimmer verlassen durften, ja verlassen mussten und er befahl Axel zu bleiben. Es war strengstens verboten, sich im Flur aufhalten, also rannten wir gleich auf den Schulhof und malten uns in den grausigsten Bildern aus, was nun gerade mit Akki passieren würde. Doch wir kannten auch den Pausenplan. Sühling hatte heute Pausen-Aufsicht und das hieß, dass er sich nicht allzu lange mit Akki im Klassenzimmer beschäftigen konnte. Und so war es auch. Denn schon nach kurzer Zeit erblickten wir Sühling draußen … abber nich' Akki.
Kläuskn meinte gleich: "Die Sabber-Sühling-Sau hat der abgemurks', da kannze für!! Der Akki liecht bestimmp' in sein eigenet Blut eingetauch' an den Waschbecken an den Klassenschrank neben der scheiß Schwamm."
Doch diese These schien uns zu gewagt. Aber wir wussten auch, dass es irgendeine Bestrafung gegeben haben musste ... oder eine, die noch anhielt. Und wir konnten uns partout nicht auf die Spiele konzentrieren, die wir gemeinhin so in den Pausen trieben. Und so warteten wir sensationslüstern & sehnsüchtig - ganz im Gegensatz zu sonst - auf das Ende der Pause und damit auf den zweiten Teil der Englisch-Doppelstunde. Denn dann ... dann würden wir ja sehen, was sich Sühling als "punishment" - so nannte er als Englischlehrer die Bestrafung immer - ausgedacht hatte.
Wir betraten schweigend und mit gesenkten Köpfen das Klassenzimmer. Keiner traute sich so richtig, Akki anzusehen. Sühling kam als letzter und schloss heftig die Türe. Dann sahen wir es. Akki baumelte mit grässlich verzerrtem Gesicht und merkwürdige verbogenem Hals an einem Seil vom Kartenständer. Die Zunge hing ihm blau … seitlich aus dem Mundwinkel …. er war tot … gemeuchelt …
Nä .... So war es natürlich nicht! Wir hörten wie von Ferne, aus unserem schrecklichen Tag-Traum erwachend, Sühlings Stimme: "So Axel, dann klapp 'mal die Tafel auf und zeige uns, was Du zu Deiner Entschuldung an die Tafel geschrieben hast!"
Und - wir - lasen - es - ALLE. Über die gesamte Tafel verteilt stand immer wieder der gleiche Satz: 'Herr Sühling ist lieb und rotzt nicht. Herr Sühling ist lieb und rotzt nicht …. Herr Sühling ist lieb und rotzt nicht. Herr Sühling ist lieb und rotzt nicht' ….
Wir bemerkten es an seinem roten Gesicht. Sühling war außer sich … doch er blieb seltsam ruhig, bat Akki auf seinen Platz zu gehen und führte dann ganz normal - so als sei gar nichts gewesen - den Englisch-Unterricht bis zum Ende fort. Danach rief er Akki zu, er solle sich nach der 6. Stunde bei ihm im Lehrerzimmer einfinden. Akki strahlte triumphierend und wir bewunderten ihn noch mehr als sonst. Und er sagte natürlich gleich, dass er keine Angst habe zu Sühling nach der 6. ins Lehrerzimmer zu gehen …"im Gegenteil, ich mach der alle!" … und so war das wohl auch ... dachten wir ...
Nach Schulschluss liefen wir sofort nach Hause und warteten dann den ganzen Nachmittag in der Goethestraße ungeduldig auf Akki. Doch er ließ sich nicht blicken. Am nächsten Tag in der Schule bedrängten wir ihn mit Fragen, was denn geschehen sei und wie es ihm mit Sühling so alleine im Lehrerzimmer ergangen sei?? Doch Akki schwieg. Der Schultag begann und in der ersten Stunde hatten wir Englisch bei Sühling.
Wir waren gespannt wie die Flitzebögen. Doch nichts. Der Unterricht verlief normal … fast normal … bis auf die Tatsache, dass Akki weder zappelt noch Grimassen schnitt noch sonst unangenehm auffiel - im Gegenteil, er beteiligte sich rege am Unterricht, wurde von Sühling wohlwollend behandelt und stets für seine Beiträge im Unterricht gelobt.
Das setzte sich die nächsten Wochen fort. Akki wurde Sühlings Lieblingsschüler und er wurde im Englischen der Klassenbeste. Wir erfuhren nie, was an dem Nachmittag zwischen Akki und Sühling vorgefallen war. Wir fragten auch nie mehr danach. Wir stellten nur fest, dass in Akki eine grundlegende Wandlung stattgefunden haben musste. Er wurde ein anderer Junge, ein guter Schüler, ein hervorragender Abiturient, ein promovierter Jurist und später ein angesehener Richter.
Akki und ich treffen uns heute noch gelegentlich. Doch nie reden wir über das, was mit Sühling vorgefallen war - ich weiß also immer noch nicht … und werde es auch wohl nie erfahren, wie Sühling es geschafft hatte, aus Akki einen anderen Menschen zu machen.
Ich denke, Sühling muss an dem Nachmittag für Akki genau zu der Vaterfigur geworden sein, die er unbewusst immer vermisst hatte.