(Text und Bild Beate Wagner)
Früher war eine Stunde länger als heute. Ganz bestimmt!
Sie hatte zwar immer schon 60 Minuten, aber wenn die Stunde früher genau so lang war wie heute, dann müssen früher einfach die Minuten länger gewesen sein. Anders geht das doch nicht?! Früher müssen die Menschen mehr Zeit gehabt haben, und das, obgleich ihre Arbeitszeit länger war. Irgendetwas stimmt da doch mit der Zeit nicht?
Mein Vater arbeitete damals als Busfahrer. Wenn er von der Arbeit kam, brauchte er zunächst mal ein bisschen Pause. Aber nach dem Päusken hatte er Zeit,
- mein Fahrrad zu reparieren,
- mit meinem Bruder zu spielen,
- mit meiner Mutter zum Einkaufen zu fahren,
- das Auto zu waschen,
- zu essen,
- zu duschen und
- um 20:00 Uhr vor dem Fernseher zu sitzen, um Herrn Koeppke bei den Nachrichten zuzuhören.
Ich habe immer den Eindruck, heute ist eine Stunde soooo kurz geworden, dass man eigentlich nach der Arbeit und der kurzen Pause, die man sich gönnt, direkt vor den Fernseher hüpfen muss, weil die 20:00 Uhr Nachrichten fast schon begonnen haben und man die auf keinen Fall verpassen darf.
Meine Mutter war Hausfrau. Auch sie hatte früher mehr Zeit. Wir hatten weder eine Spülmaschine noch einen Wäschetrockner. Der Fussboden musste nach dem Wischen immer noch gebohnert werden. Geheizt wurde mit Kohle. Also runter in den Keller:
- Kohlen holen,
- Asche rausbringen,
- den Ofen anheizen.
Waschen tat zwar die Waschmaschine, aber zum Schleudern brauchte man eine separate Schleuder. Ein lustiges Teil. Und immer wenn meine Mutter im Keller "Ach du liebes bisschen!" rief, war die Schleuder wieder von der Schüssel weg gehüpft, die das Wasser auffing. Und das wallte dann, wie das Wasser beim Zauberlehrling, durch die gesamte Waschküche. Das Aufhängen der Wäsche brauchte natürlich auch seine Zeit. Aber trotzdem konnte meine Mutter einen halben Vormittag einkaufen gehen. Das dauerte schon alleine deswegen so lange, weil man ja in zig Läden musste. Dann noch'n bissken mit der Nachbarin quatschen … und nach all dem stand das Mittagessen trotzdem pünktlich auf dem Tisch.
Mutter ging zum Kaffeetrinken im Kindergarten. Zwei Stunden lang. Und sie schaffte es dennoch, die Wäsche wieder abzunehmen, im Wohnzimmer Staub zu wischen und mit uns in den Ruhrpark zu gehen. Also irgendetwas muss an der Zeit früher anders gewesen sein? Wenn's nicht die Minuten waren und nicht Sekunden gewesen sein können? Was war's denn sonst?
Also gibt es nur eine logische Erklärung dafür: Früher war eine Stunde eben einfach länger! Oder vielleicht ist es ja auch so, dass die Stunden heute einfach erheblich kürzer sind?
Heute hört man einen Satz viel zu oft:
- "ICH HAB KEINE ZEIT!"
Ich kann am Computer lange mit meiner Freundin schreiben, aber wir haben keine Zeit uns auf einen Kaffee zu treffen. Ich sehe Frauen auf dem Spielplatz stehen, weil sie keine Zeit mehr haben, sich auf die Bank zu setzen und den Kindern beim Spielen zuzuschauen. Ich sehe sie am Sandkasten stehen und sagen: “Komm Justin, du hast jetzt genug gerutscht, wir müssen nach Hause, ich habe keine Zeit mehr, ich muss noch waschen!”
Eigentlich komisch. Das Beladen der Waschmaschine dauert 5 Minuten, dann arbeitet die Maschine zwei Stunden, ohne dass man daneben stehen muss. Also zwei Stunden Zeit zum Spielen! Aber wo sind diese zwei Stunden? Vielleicht waren früher die Stunden gar nicht länger, sondern die Menschen haben ihre Zeit nur besser und sinnvoller eingeteilt?
Wenn ich meine Zeit am Computer brauche, um ausschließlich mit meiner Freundin zu schreiben, ohne noch zusätzlich etwas anderes zu erledigen; dann kann ich doch auch gleich zu ihr fahren. Das dauert auch nur 5 Minuten länger, denn weiter ist der Weg zu ihr nicht. Und wenn ich die Waschmaschine einschalte und dann auf den Spielplatz gehe, hab ich zwei Stunden gewonnen, um mit meinem Kind zu spielen. So einfach kann das sein.
Maschinen erleichtern uns sicherlich die Arbeit. Aber die Zeit, die wir dadurch gewinnen, sollten wir unbedingt mit Menschen verbringen. Doch dummerweise nutzen wir die gewonnenene Zeit nur, um wieder mit Maschinen Kontakt zu haben und eben nicht mit Menschen. Ich bin leider, muss ich zu meiner Schande gestehen, keine Ausnahme.
Als es diese ganzen, vielen Maschinen, die Medien- und Unterhaltungsgeräte noch nicht gab, da hatten wir wirklich Zeit für einander. Darum wünsche ich sie mir manchmal zurück: DIE GUTE ALTE ZEIT.